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Einsetzung eines zweiten NSU-Untersuchungsausschusses in Bayern
Ziel ist die Klärung offener Fragen und möglicher Fehler der bayerischen Sicherheits- und Justizbehörden sowie der zuständigen Ministerien und politischen Entscheidungsträger*innen im Umgang mit der Mord- und Anschlagsserie des NSU.
28. März 2022
Die Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD im Bayerischen Landtag haben einen interfraktionellen Antrag zur Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses zur weiteren Aufklärung der Morde und Sprengstoffanschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Bayern eingereicht. Ziel des Untersuchungsausschusses ist die Klärung offener Fragen und möglicher Fehler der bayerischen Sicherheits- und Justizbehörden sowie der zuständigen Ministerien und politischen Entscheidungsträger*innen im Umgang mit der Mord- und Anschlagsserie des NSU.
Untersucht werden sollen insbesondere:
• die Netzwerke, Gruppierungen und Kontaktpersonen aus der rechtsextremen Szene in Bayern, die den NSU bei der Vorbereitung seiner Anschläge und Attentate in Bayern womöglich unterstützt haben
• die Rolle und das Wissen von V-Leuten und Informanten diverser Sicherheitsbehörden im Umfeld des NSU
• die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden zum ersten bekanntgewordenen Sprengstoffanschlag des NSU im Juni 1999 gegen eine Gaststätte in Nürnberg
• der Umgang der ermittelnden Behörden mit den Familien und Angehörigen der Mordopfer des NSU
• mögliche Verbindungen zwischen aktuell agierenden Personen und Gruppen und dem NSU
Dazu Toni Schuberl, designierter Vorsitzender des Untersuchungsausschusses und rechtspolitischer Sprecher der Landtags-Grünen: „Wir haben auch heute enorme rechtsextreme Gefährdungspotenziale. Deshalb wird der Untersuchungsausschuss auch mögliche Kontinuitäten und Verbindungen zwischen dem NSU und aktuellen rechtsterroristischen Bedrohungen durchleuchten.“
Dazu Cemal Bozoglu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus der Landtags-Grünen: „Ziel ist es, aus den Fehlern und Defiziten im Umgang mit den Taten des NSU die richtigen politischen und organisatorischen Konsequenzen zu ziehen. Aufklärung und Strafverfolgung militanter rechtsextremer Bestrebungen müssen endlich besser werden.“
Dazu Arif Taşdelen, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der BayernSPD-Landtagsfraktion: „Gerade München und Nürnberg haben unter dem NSU-Terror gelitten. Wir sind es den Opferfamilien schuldig, alles für eine restlose Aufklärung zu tun. Der Untersuchungsausschuss ist aber auch wichtig, um Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen: die Erkenntnisse können uns helfen, die größte Bedrohung für unser Land, nämlich den Rechtsextremismus, effektiv zu bekämpfen.“
Aufklärung des NSU-Komplexes noch unzureichend
Beim NSU handelt es sich um die gefährlichste und am längsten bestehende rechtsextreme Terrorgruppe in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik: Bis zu seiner Selbstenttarnung im Jahr 2011 ermordete er innerhalb von zwölf Jahren zehn Menschen. Er beging mindestens drei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle, ohne dass die Sicherheitsbehörden und die Justiz auf ihn aufmerksam wurden.
Zehn Jahre nach der Enttarnung des NSU und drei Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses vor dem Münchener Oberlandesgericht sind wir von einer vollständigen und rückhaltlosen Aufklärung der Taten des NSU immer noch weit entfernt.
Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ haben sich daher zahlreiche Angehörige von NSU-Opfern, Nebenklageanwälte aus dem NSU-Prozess, Fachberatungsstellen gegen rechtsextreme Gewalt sowie engagierte Personen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft an den Landtag gewandt. In einer Petition verlangen sie die Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses zum NSU-Komplex. Auch die Stadträte in den NSU-Tatort-Städten Nürnberg und München haben sich in interfraktionellen Resolutionen für einen zweiten Untersuchungsausschuss ausgesprochen.
Diesen Wünschen und Anliegen der Angehörigen und Familien der Opfer des NSU, der Öffentlichkeit und der politisch Verantwortlichen in den Tatort-Städten Nürnberg und München wollen die Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD mit der Initiative für einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag gerecht werden.
Denn noch immer ist unklar:
• mit wessen Hilfe die fünf Morde und der einzige bekannte Anschlag des NSU in Bayern geplant und womöglich ausgeführt wurden
• wer die zahlreichen möglichen Anschlagsziele und Fluchtrouten so akribisch für den NSU ausgespäht hat
• warum die Sicherheitsbehörden über zehn Jahre lang in die völlig falsche Richtung ermittelt und fast alle Hinweise auf einen möglichen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie ignoriert haben
• welche Informationen die zahlreichen im Umfeld des NSU tätigen V-Leute den Sicherheitsbehörden geliefert und über welchen Informationsstand insbesondere die Verfassungsschutzämter verfügt haben
• warum Angehörige der Opfer von Polizei und Staatsanwaltschaft wie Tatverdächtige behandelt wurden
Tatort Bayern
Bayern war der wichtigste und zentrale Tatort des NSU in Deutschland:
• hier startete der NSU seine Anschlagsserie im Juni 1999 mit einem Sprengstoffanschlag auf die Gaststätte „Sonnenschein“ in Nürnberg
• hier ermordete der NSU fünf Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kılıç, İsmail Yaşar und Theodorus Boulgarides
• hier hat der NSU mehrere hundert mögliche Tatorte teils akribisch ausgespäht
• hier war auch der Standort der zentralen polizeilichen Sondereinheiten zur Aufklärung der Mordserie, der „Soko Halbmond“ und der „BAO Bosporus“
• hier wurden die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden gezielt in Richtung familiäres Umfeld und Organisierte Kriminalität gelenkt
Unterstützernetzwerke des NSU in Bayern
Bei der Untersuchung möglicher regionaler Unterstützernetzwerke des NSU im Raum Nürnberg und München gibt es offenbar große Versäumnisse der Sicherheitsbehörden. So finden sich etwa zahlreiche Hinweise auf eine enge Verbindung zwischen der rechtsextremen Szene im Großraum Nürnberg/Fürth und dem direkten Unterstützerumfeld des NSU in Thüringen und Sachsen in den späten 90er und 00er Jahren.
Bayern war ein Schwerpunktgebiet solcher konspirativen Strukturen. Mögliche Querverbindungen wurden von den Sicherheitsbehörden bisher nicht angemessen untersucht. Auch die Rolle und die Kenntnisse der zahlreichen V-Leute im direkten Umfeld des NSU müssen weiter aufgeklärt werden. So muss weitergehend untersucht werden, ob V-Leute etwa in die Morde des NSU verwickelt waren.
Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses zum NSU-Komplex im Bayerischen Landtag
Nach Art. 25 der Bayerischen Verfassung und Art. 1 des Gesetzes über die Untersuchungsausschüsse des Bayerischen Landtags (UAG) muss der Landtag über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses entscheiden. Der vorliegende Antrag für einen NSU-Untersuchungsausschuss wird in den kommenden Tagen in den zuständigen Gremien des Landtags beraten und entschieden. Der Ausschuss soll sich dann möglichst bald konstituieren, um für seine Arbeit ein ausreichendes Zeitfenster bis zum Ende der Legislaturperiode zu haben. Der Vorsitzende des Ausschusses wird durch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt. Dafür vorgesehen ist Toni Schuberl, rechtspolitischer Sprecher der Landtags-Grünen.
Als Untersuchungszeitraum wird die Zeitspanne von 1990 bis 2022, dem Zeitpunkt der Einsetzung des NSU-Untersuchungsausschusses, gewählt. Der Untersuchungsausschuss verschafft sich zunächst einen Überblick über alle bei den bayerischen Behörden und den zuständigen Bundesbehörden befindlichen Akten und Unterlagen zum NSU-Komplex. Dabei soll auch die Frage behandelt werden, ob ein zentrales Archiv zu den Bayern betreffenden Aspekten des NSU-Komplexes und der darüber hinaus gehenden rechtsextremen Netzwerke in Bayern geschaffen werden kann.
Die Behandlung des Antrags auf Einsetzung eines zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Verfassungsausschuss ist für den 28. April geplant. Die Behandlung im Plenum ist für den 11. Mai vorgesehen.
Den interfraktionellen Antrag zur Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses finden Sie hier.
Hintergrundinformationen zu den Zielen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses finden Sie hier.