Demokratie | Gegen Rechts
Viele offene Fragen
GRÜNE und SPD beantragen zweiten Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex im Landtag
31. März 2022
Auch über zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) quälen die Angehörigen der Opfer und die überlebenden Opfer immer noch viele offene Fragen.
- Wie und durch wen wurden die Opfer des NSU ausgewählt?
- Wer hat die zahlreichen möglichen Anschlagsorte so akribisch ausgespäht?
- Wer gehörte zu den Unterstützernetzwerken des NSU in den jeweiligen Tatortstädten?
- Warum haben die Sicherheitsbehörden über zehn Jahre in die völlig falsche Richtung ermittelt?
Von der versprochenen lückenlosen Aufklärung sind wir jedenfalls auch nach über zehn Jahren immer noch weit entfernt. Die Fraktionen der GRÜNEN und der SPD haben deshalb mit einem gemeinsamen Antrag die Einsetzung eines zweiten Untersuchungsausschusses zum NSU gefordert.
In Nürnberg und München hat der NSU zwischen 2000 und 2005 insgesamt fünf Menschen ermordet. In Bayern hat der NSU im Juni 1999 seine Anschlagsserie mit dem sog. ‚Taschenlampenanschlag‘ auf eine Gaststätte in Nürnberg gestartet. Die Angehörigen und Familien der Opfer wurden über lange Zeiträume mit falschen Verdächtigungen konfrontiert. Dieses beschämende Versagen der ermittelnden Behörden wollen GRÜNE und SPD aufklären.
Unter dem Motto ‚Kein Schlussstrich‘ haben sich zahlreiche Opferangehörige, Anwälte der Nebenklage im NSU-Prozess, Fachberatungsstellen gegen Rechtsextremismus und engagierte Personen aus der Zivilgesellschaft mit einer Petition an den Landtag gewandt und die Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses zum NSU gefordert. Diese Forderung wird auch in Resolutionen der Stadträte aus Nürnberg und München unterstützt. Der Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter hat sich deshalb schon mit einem offenen Brief an die Landtagspräsidentin Ilse Aigner gewandt. Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses kann jedoch nur auf Beschluss des Landtags erfolgen. Den Antrag für einen NSU-Untersuchungsausschuss haben GRÜNE und SPD somit auch deshalb eingereicht, um den berechtigten Wünschen und Anliegen der Opferfamilien sowie der über 200 Petent*innen und der Stadträte von Nürnberg und München gerecht zu werden.
Mit den anderen demokratischen Fraktionen laufen Gespräche über ein gemeinsames Vorgehen. Der Antrag soll dann direkt nach Ostern im zuständigen Ausschuss für Recht und Verfassung beraten werden. Am 19. Mai 2022 könnte dann der Beschluss des Landtags zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses erfolgen. Da der Ausschuss auch mit einem Minderheitenvotum von GRÜNEN und SPD beschlossen werden kann, steht seiner Konstituierung noch in diesem Frühjahr nichts mehr im Wege.
Auch die Untersuchungsgegenstände des Ausschusses werden in dem Antrag bereits präzise benannt:
- die Aufklärung des ersten Sprengstoffanschlags des NSU gegen die Gaststätte ‚Sonnenschein‘ in Nürnberg;
- die weitere Aufklärung der rechtsextremen Unterstützernetzwerke in Franken und im Raum München;
- die Rolle und das Wissen der zahlreichen V-Personen verschiedener Sicherheitsbehörden im Umfeld des NSU;
- die zentrale Rolle der Skinheadorganisationen ‚Blood&Honour‘ und ‚Hammerskin Nation‘ im Netzwerk des NSU;
- die Ausspähung und Recherche der zahlreichen potenziellen Tatorte in Bayern;
- Lehren aus dem Versagen und den Fehlern der in Bayern ansässigen Sonderkommissionen zur Aufklärung der Ceska-Mordserie;
- Konsequenzen aus dem beschämenden Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen.
Es liegt auf der Hand, dass der NSU seine Morde und Anschläge in Bayern nicht ohne die Hilfe lokaler Unterstützer ausführen konnte. Diese rechtsextremen Netzwerke wurden von den zuständigen Behörden bisher nicht aufgedeckt. Sie existieren immer noch und stellen weiterhin eine Bedrohung dar. Die Gaststätte ‚Sonnenschein‘ in Nürnberg wurde beispielsweise erst kurz vor dem Anschlag von einem Pächter mit türkischer Herkunft übernommen und war nicht als Treffpunkt von Menschen mit Migrationshintergrund erkennbar. Der ermordete Blumenhändler Enver Şimsek hatte seinen Blumenstand an einem abgelegenen Ort am Stadtrand von Nürnberg. Der kleine Schlüsseldienst von Theodorus Boulgarides im Münchener Westend wurde erst kurz vor dem Mord des NSU eröffnet. Auch der kleine Gemüseladen von Habil Kılıç in München oder der Imbiss von İsmail Yaşar in Nürnberg sind ohne genaue Ortskenntnisse nicht als potenzielle Tatorte zu identifizieren.
Der NSU hatte nach seinem Abtauchen in den Untergrund seine Wohnsitze in Chemnitz und Zwickau. In der letzten Wohnung in Zwickau wurden Adressen von über 10.000 potenziellen Anschlagszielen gefunden. Allein aus Bayern finden sich über 1.000 Adressen auf diesen Listen. Einzelne Tatorte wurden akribisch ausgespäht. Mit genauen Angaben zu den dort anwesenden Personen, möglichen Fluchtrouten und räumlichen Gegebenheiten. Zusammen mit der SPD wollen die Landtags-Grünen wissen, wer den NSU in Bayern bei der Auswahl der Opfer und Anschlagsziele unterstützt hat.
Die Bundesanwaltschaft führt zwar ein Ermittlungsverfahren gegen neun namentlich bekannte Unterstützer*innen des NSU und ein Strukturermittlungsverfahren gegen eine unbekannte Zahl weiterer Unterstützer*innen. Allerdings haben in den vergangenen Jahren keine erkennbaren Ermittlungsmaßnahmen, Durchsuchungen oder Anklageerhebungen stattgefunden. Mit den rechtskräftigen Urteilen im Münchener NSU-Prozess scheint die juristische Aufarbeitung des NSU-Komplexes an ihr Ende gekommen zu sein. Für die Angehörigen und die überlebenden Opfer des NSU ist es eine unerträgliche Zumutung, dass die lokalen Unterstützernetzwerke bisher nicht aufgedeckt wurden und zahlreiche Helfer auch weiterhin in der rechten Szene aktiv sein dürften.