Demokratie | Gegen Rechts
Hohe Zahl antisemitischer Straf- und Gewalttaten in Bayern
Aktuelle Daten aus grüner Anfrage zeigen beunruhigende Entwicklung und Notwendigkeit Taten präziser zu erfassen
02. Februar 2024
Die Zahl der antisemitischen Straf- und Gewalttaten blieb auch im Jahr 2022 mit 358 registrierten Delikten auf einem sehr hohen Niveau. In Bayern wird nahezu täglich eine antisemitische Straftat angezeigt. Ein Großteil der Straftaten, darunter alle Gewaltdelikte, wird weiterhin dem Rechtsextremismus zugeordnet. In den ersten drei Quartalen 2023 liegt die Zahl der antisemitischen Delikte auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr (223 Taten). Das zeigen Antworten auf Anfragen der Landtags-Grünen an die Staatsregierung. In Folge der Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas in Israel dürfte sich diese Zahl bis zum Jahresende noch deutlich erhöht haben.
Mit 313 Personen in 2022 und 171 Personen in 2023 konnte jeweils eine hohe Zahl an Täter*innen ermittelt werden. Zu rund 85 Prozent sind die Täter männlich. Von den 775 anhängigen Verfahren in 2022 endeten zwei Drittel mit einer Einstellung, 162 mit einem
Strafbefehl und nur in 124 Fällen (16 Prozent) wurde überhaupt eine Anklage erhoben.
Es zeigt sich außerdem, dass die Erfassung von antisemitischen Straftaten mit Bezug zu den neuen verschwörungsideologischen Protestbewegungen und zum israelbezogenen Antisemitismus immer noch unzureichend ist. So weichen die offiziellen Zahlen stark von den Zahlen ab, die durch zivilgesellschaftliches Monitoring dokumentiert wurden, wie es beispielsweise durch RIAS Bayern geschieht.
Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende, sagt:
„In Bayern vergeht fast kein Tag ohne eine antisemitische Straftat. Das ist erschreckend. Es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlen. Es zeigt auch, dass die Staatsregierung entschiedener vorgehen muss. Fast immer sind es junge männliche Täter. Eine der Hauptaufgaben liegt darin, zu investieren und unsere Schulen und alle anderen Orte der Bildung fit zu machen und zu stärken bei entschiedenen Maßnahmen gegen radikales Gedankengut. Antisemitismus ist nicht angeboren. Es ist die Aufgabe von Politik und Gesellschaft unsere Kinder vor Feindbildern, rechtsextremen Ideologien und Hass zu schützen.“
Cemal Bozoğlu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus, erklärt:
„Jede antisemitische Straf- und Gewalttat ist eine zu viel. Um Delikte richtig einordnen und bewerten zu können, müssen sie aber auch korrekt erfasst werden. Die Staatsregierung macht es sich zu einfach, wenn sie antiisraelisch oder verschwörungstheoretisch motivierte Taten unter Rechtsextremismus abhakt. Es braucht eine Reform bei der Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle und Straftaten, um das wahre Ausmaß des Problems besser abzubilden! Zivilgesellschaftliche Stellen leisten das bereits. Wir erwarten hier von den staatlichen Sicherheitsbehörden ein detailliertes Lagebild für Bayern. Die verschiedenen Formen und ideologischen Motivationen von Antisemitismus müssen angemessen erfasst werden.“
In den Antworten auf die grünen Anfragen finden sie zum einen Informationen, die über den Verfassungsschutzbericht 2022 hinausgehen, zum anderen auch erstmals Daten zu den ersten drei Quartalen 2023.
Besonders bemerkenswert ist:
- 25 Personen wurden in den vergangenen zwei Jahren Opfer antisemitischer Gewalttaten. In den Jahren 2022 und 2023 (drei Quartale) fanden jeweils zehn antisemitisch motivierte Gewalttaten statt. Außerdem gab es 2022 elf Angriffe auf Synagogen - darunter die schwere Brandstiftung gegen die Synagoge in Kleinsendelbach bei Forchheim - und jüdische Einrichtungen. Diese Zahlen sind erschreckend und müssen uns aufrütteln.
- Es konnte eine große Zahl an mutmaßlichen Täter*innen ermittelt werden, alleine 2022 sind es 313, 171 Personen in 2023. Bei den Tätern handelt es sich zu rund 85 Prozent um Männer.
- Immer noch verlaufen viele Straf- und Ermittlungsverfahren wegen antisemitischer Straftaten im Sande. So waren es 2022 insgesamt 775 Verfahren von denen 529 oder 68 Prozent der Verfahren mit einer Einstellung endeten. Nur in 124 Fällen kam es überhaupt zu einer Anklageerhebung. Die meisten Verurteilungen enden mit einer Geldstrafe oder Maßnahmen nach dem Jugendstrafgesetz.
- Es gibt immer noch erhebliche Defizite bei der polizeilichen Erfassung antisemitischer Straftaten. Bei unklarer Motivlage werden Taten automatisch dem Bereich der rechtsextremen politischen Kriminalität zugeordnet. Antiisraelisch oder verschwörungstheoretisch motivierte Taten werden in der Kriminalstatistik nur unzureichend abgebildet. Antisemitische Vorfälle unterhalb der Ebene der Strafbarkeit werden überhaupt nicht erfasst. Die Zahlen der zivilgesellschaftlichen Recherchestelle RIAS weichen hier stark von den offiziellen Zahlen ab.
Weitere Erkenntnisse:
- Das Abweichen der RIAS Bayern-Zahlen zur Kriminalstatistik ist deutlich: Während RIAS Bayern 2022 insgesamt 135 antisemitische Vorfälle mit Coronabezug registriert hat, sind es laut Kriminalstatistik nur 9 Taten mit Bezug zu den Coronaprotesten. Während RIAS 2022 37 antisemitische Vorfälle mit Bezug zum Krieg in der Ukraine erfasst hat, wurden in der Kriminalstatistik überhaupt keine Straftaten erfasst. Von RIAS wurden zudem 2022 weitere 225 antisemitische Vorfälle unterhalb der Ebene der Strafbarkeit registriert. Hier zeigt sich der Nachbesserungsbedarf bei der Erfassung von Antisemitismus mit verschwörungsideologischem oder antiisraelischem Hintergrund. https://report-antisemitism.de/documents/Antisemitische-Vorfaelle-2022-RIAS-Bayern.pdf
- Bewertung: Die Dynamik antisemitischer Straftaten hängt stark mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und Bewegungen zusammen. So erreichte die Zahl der antisemitischen Delikte in Bayern mit 510 Taten 2021 in Folge der Protestbewegung gegen die Coronamaßnahmen einen traurigen Höhepunkt. 2023 ist als Folge des Terrorangriffs der Hamas und des Krieges im Gazastreifen ebenfalls mit einem starken Anstieg der Straftaten zu rechnen.
Forderungen der Grünen Landtagsfraktion:
- Über 80 Prozent der antisemitischen Delikte werden weiterhin dem Rechtsextremismus zugeordnet. Die dramatische Zunahme eines antiisraelisch motivierten Antisemitismus wird mit den gängigen Kategorien der Zuordnung politisch motivierter Kriminalität nicht ausreichend erfasst. Hier ist dringend eine Reform bei der Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle und Straftaten erforderlich um das wahre Ausmaß des Problems besser abzubilden. Nicht nur gegen Rechtsextremist*innen, sondern auch gegen Querdenker*innen und antiisraelisch motovierte Antisemit*innen muss konsequent vorgegangen werden.
- Es darf nicht sein, dass die staatliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und Straftaten so deutlich hinter der zivilgesellschaftlichen Dokumentation (etwa von RIAS Bayern) hinterherhinkt. Diese ist wesentlich präziser in ihren Erfassungskategorien. Wir erwarten hier vom CSU-geführten Innenministerium ein detailliertes Lagebild für Bayern, welches die verschiedenen Formen und ideologischen Motivationen von Antisemitismus angemessen erfasst. Dem Landtag muss darüber berichtet werden.
- Bei der strafrechtlichen Ahndung antisemitischer Straf- und Gewalttaten in Bayern verlaufen viele Verfahren im Sande. Wir wollen den Ermittlungs- und Fahndungsdruck weiter erhöhen.
- Die meisten Täter sind Männer, viele Verurteilungen fallen unter das Jugendstrafrecht. Die Staatsregierung muss in historisch-politischen Bildung investieren und mehr Maßnahmen gegen Antisemitismus an Schulen und Universitäten umsetzen.
Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Cemal Bozoğlu vom 31.10.2023 betreffend Antisemitische Vorfälle sowie Straf- und Gewalttaten 2022 und 2023
Auswertung SAN Antisemitische Straf- und Gewaltdaten 2022 und 2023