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Rekordniveau bei antisemitische Straftaten 2023

2023 stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten auf 589 Delikten zeigen aktuelle Antworten auf eine Anfrage der Landtags-Grünen

29. April 2024

In den Antworten unserer Anfrage  sind zum einen Informationen, die über den Verfassungsschutzbericht 2023 hinausgehen, zum anderen erstmals Daten zum letzten Quartal 2023 in dem die Zahl der antisemitischen Straftaten geradezu explodiert ist!

Im Jahr 2023 stieg die Zahl der Delikte mit 589 Straftaten auf ein Rekordniveau. Ein Großteil der Taten wurde im letzten Quartal 2023 (366) registriert. In den ersten drei Quartalen 2023 lag die Zahl der antisemitischen Delikte auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr (223 Taten). Der starke Anstieg zum Jahresende ist den Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas in Israel (7.10.23) geschuldet.

Das übertrifft sogar noch das Rekordjahr im negativsten Sinne, wo es im Zuge der Corona-Proteste und Verbreitung von Verschwörungstheorien zu einem enormen Anstieg von antisemitischen Delikten (510) kam. Das war aber das gesamte Jahr 2021. 2021 war schon ein trauriger Höhepunkt. 2022 waren es im gesamten Jahr 358. Das vierte Quartal 2023 liegt damit alleine über dem gesamten Jahr 2022.

Besonders bemerkenswert ist:

  • Im Jahr2023 stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten mit 589 Delikten – darunter 15 Gewalttaten - auf ein Rekordniveau. Der starke Anstieg der Taten im letzten Quartal 2023 ist vor allem auf die Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel und den anschließenden Krieg im Gazastreifen zurückzuführen. 341 Straftaten – darunter 10 Gewaltdelikte - werden dem rechtsextremen Täterkreis zugeordnet, 65 Taten fallen unter die Rubrik ‚Sonstige Zuordnung‘, unter der sich vor allem Querdenker, Reichsbürger und Verschwörungsideologen verbergen. Stark gestiegen sind auch die Delikte im Bereich der ausländischen (52 Straftaten) bzw. religiösen Ideologie (124 Straftaten). Diese Entwicklung ist vor allem auf die zahlreichen antisemitischen Straftaten in Folge des Hamas-Terrors in Israel zurückzuführen.
  • 2023 wurden 26 Personen Opfer antisemitischer Gewalttaten. 14 Personen wurden Opfer von Taten aus dem rechten Spektrum, 8 Personen wurden Opfer von Taten aus dem Feld religiöse Ideologie (Islamisten) und 4 Personen wurden Opfer von Tätern aus dem Bereich ausländischer Ideologie.
  • 2023 sind insgesamt 1.000 Verfahren wegen antisemitischer Taten neu eröffnet worden. 431 Verfahren wurden aus unterschiedlichen Gründen eingestellt. 238 Verfahren haben sich aus sonstigen Gründen erledigt (Verfahrensabgaben, Verfahrensverbindungen und vorläufige Verfahrenseinstellungen).
  • Nur in 208 Fällen kam es 2023 zu einer Verurteilung des oder der Täter*innen. Hier sind die Jugendstrafen bereits mit eingerechnet. Ein Großteil der Ermittlungsverfahren (detaillierte Statistik in Anlage 2) verläuft also immer noch im Sande. Die Quote der Verurteilungen liegt immer noch nur bei ca. 20 Prozent. Der Großteil davon sind Geld- und Jugendstrafen. Der Verfolgungsdruck muss sich erhöhen, hier sind der Innenminister und der zentrale Beauftragte der Staatsanwaltschaft für Antisemitismus (Anlage 7 zeigt: er hat nur 37 Verfahren übernommen) gefordert. Bei den Urteilen bayerischer Gerichte kam es bei den antisemitischen Straftaten zu 149 Geldstrafen, 23 Freiheits- oder Jugendstrafen und 36 Maßregeln nach dem Jugendstrafgesetz sowie zu 2 Freisprüchen. Bei den Verfahren, welche mit einem gerichtlichen Urteil enden, dominieren Geldstrafen bzw. Maßregeln nach dem Jugendstrafgesetz.
  • 2022 kam es zudem zu insgesamt 11 Straftaten und 2023 zu 15 Straftaten gegen jüdische Einrichtungen oder Synagogen. Darunter befand sich auch die versuchte schwere Brandstiftung am 01.01.2023 auf die Synagoge in Kleinsendelbach bei Forchheim.
  • Die Dynamik antisemitischer Straftaten hängt auch sehr stark mit den aktuellen Protestbewegungen gegen die Corona-Maßnahmen und zum Kriegsgeschehen in der Ukraine und im Gaza-Streifen zusammen. Im Zuge dieser Protestbewegungen hat die Verbreitung von Verschwörungsideologien, von denen viele auch antisemitische Elemente enthalten, stark zugenommen. Ein verschwörungsideologisches Weltbild kann zu Radikalisierungsprozessen bis hin zur Gewaltanwendung führen.
  • Die Staatsregierung hat aber keine detaillierte Einschätzung zu antisemitischen Vorfällen im Zusammenhang mit den genannten Protestbewegungen. In der Kriminalstatistik wurden 2022 nur 9 antisemitische Straftaten mit Bezug zu den Coronaprotesten registriert. Mit Bezug zum Ukrainekrieg wurden überhaupt keine Straftaten ausgewiesen.
  • RIAS Bayern hat demgegenüber 2022 101 antisemitische Vorfälle mit verschwörungsideologischem Hintergrund dokumentiert. Davon wurden 13 als strafrechtlich relevant bewertet. 135 von insgesamt 422 registrierten antisemitischen Vorfällen hatten 2022 laut RIAS einen Coronabezug. Außerdem hat RIAS 2022 37 antisemitische Vorfälle mit Bezug zum Krieg in der Ukraine registriert. Davon sind 8 strafrechtlich relevant.
  • Der israelbezogene Antisemitismus korreliert stark mit der Lage im Nahen Osten. Aufgrund des aktuellen Protestgeschehens nach den Terrorangriffen der Hamas steigt auch der israelbezogene Antisemitismus stark an. Hierzu hat die Staatsregierung allerdings nur 31 antisemitische Straftaten registriert, die dem Protestgeschehen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel zugeordnet werden. Die meisten haben einen Bezug zu den PMK-Bereichen religiöse bzw. ausländische Ideologie (vgl. Anhang 5). Die reale Zahl der antiisraelisch motivierten Straftaten dürfte allerdings deutlich höher liegen. Das zeigen auch die letzten Zahlen von RIAS vom Oktober 2023.

    Der israelbezogene Antisemitismus wird bisher in der Kriminalstatistik nicht adäquat erfasst. Die Kategorien 'ausländische Ideologie' bzw. 'religiöse Ideologie' in der PMK sind viel zu unspezifisch. Deshalb hat das Innenminister auch Probleme beispielsweise alle antisemitischen Taten im Zusammenhang mit antiisraelischen Protesten zu erfassen. Wir Grüne fordern deshalb eine Reform der PMK-Statistik.
  • So wurden allein im letzten Quartal 2023 – also nach dem Angriff auf Israel - in Bayern 366 antisemitische Straftaten registriert, mehr als im gesamten Jahr 2022 und mehr als in den ersten drei Quartalen 2023 (223 Straftaten). Ein erheblicher Teil dieser Delikte dürfte mit den Protesten gegen Israel zusammenhängen. Die Staatsregierung verfügt jedoch über keine Zahlen zu den antisemitischen Straftaten im Zusammenhang mit den israelfeindlichen Kundgebungen und Demonstrationen nach dem 07.Oktober 2023. Das es hier kein systematisches Monitoring von Seiten der zuständigen Behörden gibt, ist ein großes Versäumnis.
  • Der Nahost-Konflikt wirkt als Brandbeschleuniger für antisemitische und antijüdische Hetze. Aus der rechtsextremen Szene gab es keine öffentlichen Aktionen nach den Terroranschlägen der Hamas. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel zeigten vor allem die islamistische Szene und ausländische Gruppierungen eine verstärkte öffentliche Präsenz.

 

  • Das Abweichen der RIAS-Zahlen zur Kriminalstatistik ist deutlich: Während RIAS Bayern 2022 insgesamt 135 antisemitische Vorfälle mit Coronabezug registriert hat, sind es laut Kriminalstatistik nur 9 Taten mit Bezug zu den Coronaprotesten. Während RIAS 2022 37 antisemitische Vorfälle mit Bezug zum Krieg in der Ukraine erfasst hat, wurden in der Kriminalstatistik überhaupt keine Straftaten erfasst. Von RIAS wurden zudem 2022 weitere 225 antisemitische Vorfälle unterhalb der Ebene der Strafbarkeit registriert. Hier zeigt sich der Nachbesserungsbedarf bei der Erfassung von Antisemitismus mit verschwörungsideologischem oder antiisraelischem Hintergrund. https://report-antisemitism.de/documents/Antisemitische-Vorfaelle-2022-RIAS-Bayern.pdf
  • Bewertung: Die Dynamik antisemitischer Straftaten hängt stark mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und Bewegungen zusammen. So erreichte die Zahl der antisemitischen Delikte in Bayern mit 510 Taten 2021 in Folge der Protestbewegung gegen die Coronamaßnahmen einen traurigen Höhepunkt. 2023 ist als Folge des Terrorangriffs der Hamas und des Krieges im Gazastreifen ebenfalls mit einem starken Anstieg der Straftaten zu rechnen.

Forderungen der Grünen Landtagsfraktion:

  • Die dramatische Zunahme eines antiisraelisch motivierten Antisemitismus wird mit den gängigen Kategorien der Zuordnung politisch motivierter Kriminalität nicht ausreichend erfasst. Die Kategorien ‚ausländische Ideologie‘ und ‚religiöse Ideologie‘ sind zu unspezifisch. Hier ist dringend eine Reform bei der Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle und Straftaten erforderlich um das wahre Ausmaß des Problems besser abzubilden. Nicht nur gegen Rechtsextremist*innen, sondern auch gegen Querdenker*innen und antiisraelisch oder islamistisch motivierte Antisemit*innen muss konsequent vorgegangen werden.
  • Es darf nicht sein, dass die staatliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und Straftaten so deutlich hinter der zivilgesellschaftlichen Dokumentation (etwa von RIAS Bayern) hinterherhinkt. Diese ist wesentlich präziser in ihren Erfassungskategorien. Wir erwarten hier vom CSU-geführten Innenministerium ein detailliertes Lagebild für Bayern, welches die verschiedenen Formen und ideologischen Motivationen von Antisemitismus angemessen erfasst. Dem Landtag muss darüber berichtet werden.
  • Bei der strafrechtlichen Ahndung antisemitischer Straf- und Gewalttaten in Bayern verlaufen viele Verfahren im Sande. Wir wollen den Ermittlungs- und Fahndungsdruck weiter erhöhen.
  • Die meisten Täter sind Männer, viele Verurteilungen fallen unter das Jugendstrafrecht. Die Staatsregierung muss in historisch-politischen Bildung investieren und mehr Maßnahmen gegen Antisemitismus an Schulen und Universitäten umsetzen.

Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende:

„In Bayern passiert jeden Tag mindestens eine antisemitische Straftat. Es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlen. Wir kämpfen gegen jegliche Form von Antisemitismus – es ist wie Rassismus eines der grundlegenden Probleme unserer Gesellschaft. Deswegen muss mehr getan werden, wir müssen den Judenhass aus unserer Gesellschaft verbannen.

Der Söder-Regierung kommt hier eine besondere Rolle zu: Es braucht ein detailliertes Lagebild, das die verschiedenen Formen und ideologische Motivationen des Antisemitismus abbildet. Der Fahndungs- und Ermittlungsdruck muss erhöht werden. Viele Verurteilungen fallen unter das Jugendstrafrecht. Es brauch mehr Investitionen in Bildung und Aufklärung in den Schulen und außerhalb.“



Cemal Bozoğlu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus:

„Jede antisemitische Straf- und Gewalttat ist eine zu viel. Ein neuer erschreckender Rekordwert in Bayern. Damit können und dürfen wir uns nicht abfinden. Es besteht ein dringender politischer Handlungsbedarf. Wir müssen alle repressiven und präventiven Instrumente nutzen, um dem wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft einzudämmen.“

„Um Delikte richtig einordnen und bewerten zu können, müssen sie aber auch korrekt erfasst werden. Die Staatsregierung macht es sich zu einfach, wenn sie antiisraelisch oder verschwörungstheoretisch motivierte Taten einfach unter Rechtsextremismus abhakt. Es braucht eine Reform bei der Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle und Straftaten, um die unterschiedlichen Hintergründe und Motivationen der Taten besser abzubilden! Zivilgesellschaftliche Stellen wie RIAS leisten das bereits. Wir erwarten angesichts der dramatischen Gefährdungslage für jüdische Menschen und Einrichtungen in Bayern aber auch von den staatlichen Sicherheitsbehörden ein detailliertes Lagebild.“

Alle Antworten auf unsere Anfrage:

Anlage 1

Anlage 2

Anlage 3

Anlage 4

Anlage 5

Anlage 6

Anlage 7