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Straf- und Gewalttaten gegen Politiker*innen auf hohem Niveau
Landtags-Grüne fordern Maßnahmenbündel, um Entwicklung entgegenzusteuern
15. Mai 2024
Die Landtags-Grünen haben beim Bayerischen Innenministerium Zahlen zu "Straf- und Gewalttaten gegen politische Amts- und Mandatsträger*innen 2023" abgefragt. Aus den Antworten geht hervor:
Zentral ist:
- Im Jahr 2023 wurden insgesamt 1.013 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger*innen in Bayern registriert. Damit bewegen sich die Straftaten weiterhin auf einem erschreckend hohen Niveau (zum Vergleich im Jahr 2022 waren es 1.081 Delikte; im von Corona-Protesten geprägten Rekordjahr 2021 waren es 1.575 Delikte). Bei etwas mehr als der Hälfte der registrierten Straftaten handelt es sich um Drohungen, Verleumdungen, Beleidigungen, Nötigungen oder Volksverhetzungsdelikte die per Mail oder über soziale Medien erfolgten.
Im Landtagswahlkampf 2023 kam es ebenfalls zu einer erschreckend hohen Zahl an Straftaten. So wurden allein rund 700 Sachbeschädigungen an Wahlkampfmaterialien angezeigt. Hauptbetroffene waren wir Grüne mit 263 bekannt gewordenen Straftaten. Auch die Angriffe gegen Parteieinrichtungen richteten sich vor allem gegen Grüne Partei- und Abgeordnetenbüros.
- Im Jahr 2023 wurden 55 Gewalttaten registriert. Im Jahr 2022 waren sie zuletzt mit 122 Delikten auf ein Rekordniveau gestiegen (2021: 75 Delikte). Bei einem Großteil der Gewaltdelikte handelt es sich um Erpressungen. Außerdem gab es im Jahr 2023 noch acht (versuchte) Körperverletzungsdelikte. Darunter fällt auch der Steinwurf eines mutmaßlichen ‚Reichsbürgers‘ auf die Bühne einer grünen Wahlkampfkundgebung am 17. September 2023 in Neu-Ulm.
- Die Zahl der von Gewalttaten betroffenen Amts- und Mandatsträger*innen hatte sich im Jahr 2022 mit 161 Personen gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt (88 Opfer). 2023 liegt die Zahl der betroffenen Politiker*innen mit 62 Opfern von Gewalttaten gegenüber dem Rekordjahr 2022 zwar niedriger, ist aber immer noch erschreckend hoch.
- Im Jahr 2023 wurden bisher 772 Täter*innen ermittelt. Die Aufklärungsquote bei den Straftaten liegt mit 76 Prozent in einem befriedigenden Bereich. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 konnten in 804 Fällen die Täter*innen ermittelt werden. Die Aufklärungsquote hat sich damit gegenüber dem Vorjahr deutlich von 48 auf 74 Prozent erhöht.
- Bei den Gewalttaten im Jahr 2023 konnten insgesamt 50 Täter*innen ermittelt werden. Trotzdem kam es nur zu 14 rechtskräftigen Verurteilungen; allesamt Geldstrafen. In acht Fällen wurde von der Staatsanwaltschaft ein Strafbefehl beantragt und nur in einem Fall kam es zu einer Anklageerhebung. Hierbei handelt es sich um den Steinwurf eines Reichsbürgers auf eine grüne Wahlkampfkundgebung in Neu-Ulm.
- Über 90 Prozent der Straftaten werden in der Kriminalstatistik unter „sonstige Zuordnung“ geführt und lassen sich weder dem klassischen Links- noch Rechtsextremismus zuordnen. Es handelt sich vor allem um Taten im Zusammenhang mit den neuen Protestbewegungen in der Folge der Corona-Pandemie oder des Ukraine-Krieges. Eine besondere Rolle spielt die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter. Im Jahr 2022 wurden ihr allein 424 von 1.081 Straftaten gegen politische Amts- und Mandatsträger*innen zugeordnet. Im Jahr 2021 waren es demgegenüber 229 von insgesamt 1.575 Straftaten. 2022 hat es also einen enormen Mobilisierungsschub in diesem Milieu gegeben. 2023 sind dann die Straftaten von Reichsbürgern gegen Amts- und Mandatsträger*innen wieder auf 214 von insgesamt 1.013 Straftaten zurück gegangen. Dies könnte neben einer gestiegenen Repression gegen die Reichsbürgerszene allerdings auch mit Änderungen in der statistischen Erfassung dieser Taten zusammenhängen. Verschwörungsideologen werden nun genauer erfasst und Reichsbürger nur noch als eine Unterkategorie behandelt.
- Aufgrund des Online-Meldeverfahrens für politische Amts- und Mandatsträger*innen kam es seit dem Start des Meldeverfahrens am 11.09.2020 zu insgesamt 200 Prüfbitten bei der Hatespeech-Beauftragten der Generalstaatsanwaltschaft München. In 165 Fällen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Es haben jedoch bisher nur 183 Amts- und Mandatsträger*innen Zugang zu dem Online-Meldeverfahren bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus erhalten. Das dürfte auch die Ursache dafür sein, dass angesichts der Gesamtzahl der einschlägigen Straftaten gegen Politiker*innen die Zahl der Online in drei Jahren gemeldeten Fälle immer noch sehr gering ausgefallen ist.
- Betrachtet man die Gesamtanzahl der Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen sowie die Anzahl der Gewaltdelikte über den mittleren Zeitverlauf von fünf Jahren ist eine alarmierende Entwicklung festzustellen, die ein demokratiegefährdendes Niveau erreicht hat. So hat sich die Anzahl der Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen gegenüber 2019 (245) mehr als vervierfacht und die Anzahl der Gewaltdelikte hat sich im Vergleich zu 2019 (24 Gewaltdelikte) im Jahr 2022 verfünffacht.
Weitere wichtige Erkenntnisse:
- Nötigung und Volksverhetzung: Die Zahl der Volksverhetzungsdelikte nach §130 StGB liegt im Jahr 2023 bei 27. (2022: 46 / 2021: 62). Außerdem wurden 123 Nötigungen registriert. (2022: 256 / 2021: 109). Zudem wurden 2023 noch 195 Beleidigungen nach §185 StGB und 39 Bedrohungen nach §241 StGB in der Kriminalstatistik festgehalten.
- Durch Landesamt für Verfassungsschutz erfolgt keine strukturierte Erfassung der Straf- und Gewalttaten aus dem PMK-Bereich ‚sonstige Zuordnung‘: Ein Großteil der Gewaltdelikte fällt weiterhin unter die PMK-Kategorie ‚Sonstige Zuordnung‘ (PMK: gemeinsames System von Bund und Ländern zur Erfassung Politisch motivierter Kriminalität). Dass über 90 Prozent der Straf- und Gewalttaten mittlerweile in diese Kategorie fallen, zeigt deutlich, dass die bisherigen an der Extremismustheorie orientierten Kategorien der PMK nicht mehr brauchbar sind, um das reale Geschehen abzubilden. Hier ist dringend eine Reform des statistischen Erfassungssystems im Bereich der politisch motivierten Kriminalität geboten.
- Die Staatsregierung hat keine Erkenntnisse, wie viele Politiker*innen in Folge von Hasskriminalität ihr Amt oder Mandat niedergelegt bzw. von einer Kandidatur abgesehen haben. Vor einer Abfrage der kommunalen Spitzenverbände wurde abgesehen, da die Entscheidung zur Niederlegung kommunaler Ämter und Mandate keiner Begründung bedarf. Es ist aber davon auszugehen, dass die Kommunalverbände über Erkenntnisse und Einschätzungen zu diesem Problemfeld verfügen. Zu der Betroffenheit von Hasskriminalität liegen zudem bereits Umfragen und Studien vor.
- Die BKA-Studie ‚Sicherheit und Kriminalität in Deutschland 2020/2021‘ ermöglicht keine Rückschlüsse zu den Auswirkungen der Hasskriminalität auf Politiker*innen, da Berufe oder Funktionen der Opfer nicht abgefragt wurden. Es wurde lediglich gefragt, ob die ‚politische Einstellung‘ der Opfer ein Motiv für die Tat gewesen sein könnte.
Forderungen der Landtags-Grünen:
- Besserer Schutz von betroffenen Politikerinnen und Politikern durch eine bayernweite Anlauf- und Beratungsstelle für kommunale Amts- und Mandatsträger*innen. Die Anlaufstelle soll bedrohte und angefeindete kommunale Amts- und Mandatsträger*innen beraten und dazu beitragen, die Kommunikation zwischen Sicherheitsbehörden, Justiz und Verwaltung zu verbessern. Die Anlaufstelle sollte in enger Kooperation mit den kommunalen Verbänden konzipiert und realisiert werden.
- Onlinemeldeverfahren bekannter machen – angesichts der hohen Gesamtzahl an Straf- und Gewalttaten gegen Mandatsträger*innen ist die Zahl der Meldungen innerhalb von mehr als drei Jahren viel zu gering.
- Anzeigemöglichkeiten erleichtern – die virtuelle Polizeiwache muss kommen! Es spielt keine Rolle, ob man einen Menschen auf der Straße beleidigt oder dafür eine Social-Media-Plattform nutzt. Es handelt sich um eine Straftat und niemand, der so etwas tut, darf ungestraft davonkommen. Die Staatsregierung muss die Hürden, so etwas zur Anzeige zu bringen, vollständig abbauen.
- Die Sicherheitsbehörden müssen in Zukunft ein Hauptaugenmerk auf die Radikalisierung der neuen rechtsoffenen und verschwörungsideologischen Protestmilieus richten. Die anhaltend hohe Zahl der Straftaten der Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene ist besorgniserregend.
- Reform des statistischen Erfassungssystems im Bereich der politisch motivierten Kriminalität um Straf- und Gewalttaten richtig zuordnen zu können.
Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Landtags-Grünen, sagt:
„Es kann nicht sein, dass Menschen, die sich in Bayern politisch engagieren, die oft ehrenamtlich tätig sind, Angst haben müssen. Aber genau das ist die Realität. Jeden Tag geschehen im Durchschnitt drei Straftaten gegen Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger in Bayern. Das sind nicht nur einfach Angriffe gegen eine Partei oder Politik, die einem nicht passt – das sind Angriffe gegen unsere Demokratie! Umso klarer müssen wir uns dem entgegenstellen. Anzeigen müssen schnell und einfach auch online möglich sein, Betroffene unkompliziert unterstützt werden. Und wir müssen zurück zum guten gesellschaftlichen Miteinander und fairen politischen Debatten über die Parteigrenzen hinweg.“
Cemal Bozoğlu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus:
„Wir müssen inzwischen von einem demokratiegefährdenden Niveau sprechen, wenn wir die anhaltend hohe Zahl von Angriffen auf Politikerinnen und Politiker in Bayern betrachten. Zutiefst besorgniserregend ist dabei die Radikalisierung der neuen rechtsoffenen und verschwörungsideologischen Protestmilieus. Um Delikte richtig einordnen und bewerten zu können, müssen sie aber auch korrekt erfasst werden. Das passiert bisher nicht. 90 Prozent der Taten werden in eine nichtssagende Sammelkategorie gesteckt. Dabei wäre es dringend nötig, genau zu schauen, aus welchen Milieus und ideologischen Motivationen heraus Täterinnen und Täter genau handeln. Eine Reform ist unerlässlich, ebenso wie eine gesamtgesellschaftliche Ächtung solcher Taten. Wer Opfer einer solchen Tat wird, muss sich auf die Solidarität aller Demokratinnen und Demokraten verlassen können.“