Kultur und Heimat

EM-Talk: „Politik raus aus den Stadien? Das ist Quatsch“

Pünktlich zum Beginn der Fußball-Europameisterschaft der Männer in Deutschland lädt die Grüne Landtagsfraktion zum Expert*innen-Gespräch. Wie politisch darf der Sport werden? Und wie sportlich ist die Politik?

coredia-Medienproduktion

16. Oktober 2023

„Das Sportliche“, sagt Thomas Kessen, „ist ja ganz schön. Aber das ist nur der Anfang.“ Kessen, Sprecher von „Unsere Kurve“ und damit einer seit 2005 bestehenden Interessengemeinschaft von Fußballfans in ganz Deutschland, spricht in diesem Moment im Stadion an der Schleißheimer in München von seinem eigenen Antrieb, den Drittligisten VfL Osnabrück Tag und Nacht zu unterstützen. Es gehe um weit mehr als um das Spiel, vielmehr darum, tolle Leute kennenzulernen, die er ohne den Fußball nie kennengelernt hätte. „Nur so komme ich aus meiner eigenen Blase heraus“, erklärt er den rund 50 Gästen und seinem Nebenmann Max Deisenhofer, Sportsprecher der Grünen im Bayerischen Landtag und Moderator der Podiumsdiskussion.

Thomas Kessen geht es um Gemeinschaft, um die verbindende Kraft des Fußballs, um eine unvergessliche, gemeinsame Zeit. Und während den Fanvertreter im Gegensatz zu den Spielen seines Herzensvereins die Begegnungen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft weitestgehend kalt lassen, spricht er in diesem Moment vom großen Ganzen – dass Fußball weit mehr ist als das obligatorische 1:0.

Aber gibt es da nicht auch die andere Seite? Die vielen Misstöne? Die Diskussionen über zu viel Geld, über zu wenig (oder zu viel) Vielfalt, über vielleicht überhöhte Erwartungen an Spielerinnen und Spieler? Fans protestieren und werfen Tennisbälle auf den Rasen, die Medien reagieren und schreiben längst nicht mehr nur übers nackte Ergebnis, die Politik duckt sich mal weg, mischt sich mal ein, instrumentalisiert auch. „Wem gehört denn nun der Fußball?“ fragt Deisenhofer in der Münchner Kultkneipe. Die einfachste Antwort? Tim Jürgens, stellvertretender Chefredakteur des Fußballmagazins 11FREUNDE hat sie: „Uns allen.“ Durch den Fußball könne die Gesellschaft zusammenkommen, die Fans könnten diskutieren, ohne derselben Meinung sein zu müssen. „Ein Magazin wie die 11FREUNDE existiert überhaupt nur, weil der Fußball solche Emotionen auslöst und jedes Wochenende die Massen bewegt“, betont Jürgens.

Fritzy Kromp, Cheftrainerin der U-20-Frauen und Nachwuchskoordinatorin bei Eintracht Frankfurt differenziert, wenn es um das gesteigerte Interesse am Fußball geht: „Natürlich sind wir froh über die Aufmerksamkeit, gerade im Frauenfußball. Und eine Turnierzeit wie jetzt ist und bleibt eine besondere Zeit, auf die ich mich sehr freue. Die Stimmung drumherum ist aber oft sehr dramatisch und es ärgert mich vor allem als Trainerin, dass es manchmal nur schwarz-weiß, aber nichts dazwischen zu geben scheint.“

Aus Trainerinnensicht empfand sie die wochenlangen Protestaktionen der Fans gegen den geplanten Investorendeal der Deutschen Fußball-Liga (DFL) als lästig und – bei langanhaltenden Spielunterbrechungen – medizinisch bedenklich. Funktionär*innen und Fans hätten viel früher zusammenkommen müssen. Für Kessen als Fanvertreter hat sich der gewünschte Effekt jedoch erst dadurch eingestellt: „Wenn wir genervt haben, haben wir unser Ziel erreicht.“ Den Finger in die Wunde legen, auch ZDF-Expertin Fritzy Kromp befürwortet das grundsätzlich – beispielsweise, wenn es um den Frauenfußball geht. „Wir finanzieren uns immer noch nicht eigenständig, sondern sind abhängig von den Männer-Fußballabteilungen unserer Vereine und von externen Geldgebern. Und wir verpassen international gerade den Anschluss an die Spitze, das ist die Quittung für die Versäumnisse der vergangenen Jahre“, erklärt sie.

Dass der DFB auch bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar 2022 Fehler gemacht hat, darüber ist sich das gesamte Podium einig. „Der DFB hat sich schon im Vorfeld falsch verhalten. Erst wurde Protest angekündigt, dann hat man sich die Spielregeln doch durch die UEFA vorschreiben lassen“, benennt Tim Jürgens den Bruch. Bereits während seines Geschichtsstudiums habe er gelernt, dass Sport von der Politik auch missbraucht werden kann. „Aber Politik raus aus den Stadien? Das ist Quatsch, das geht gar nicht“, betont er.